Fegefeuer in Ingolstadt (Marie-Luise Fleißer)

Fegefeuer in Ingolstadt

Das ursprünglich Die Fußwaschung benannte Stück „ist aus dem Zusammenprall meiner katholischen Klostererziehung und meiner Begegnung mit Feuchtwanger und den Werken Brechts entstanden“. Die Uraufführung dieses Erstlingswerks an der von M. Seeler geleiteten „Jungen Bühne“ kam auf Vermittlung B. Brechts zustande.
Die Autorin nennt ihr Schauspiel, in dem sie am Beispiel einer Gruppe von Jugendlichen in Ingolstadt die Zwänge des Lebens in der Provinz dramatisch gestaltet, „ein Stück über das Rudelgesetz und über die Ausgestoßenen“ (Volksstück). Im Mittelpunkt steht der Schüler Roelle, der im von abgründigem Mißtrauen und dumpfer Moral gekennzeichneten katholischen Kleinstadtmilieu verzweifelt und verbissen seine Identität sucht. Die seelisch verhärteten und angepaßt-gleichgültigen Figuren um ihn herum agieren in ähnlicher Weise als Unterdrückte wie als Unterdrücker: Das geschwängerte Mädchen Olga, ihr fallsüchtiger und verständnisloser Vater, Roelles Mutter, die den häßlichen und leidenden Sohn wie ein Kind behandelt, in Vorurteilen befangene Mitschüler, bös-hämische Ministranten und undurchsichtige Agenten wie Protasius und Gervasius. Sie alle sind Produkte und letztlich Opfer einer gestörten und inhumanen gesellschaftlichen Ordnung, deren allgegenwärtige Zwänge und Normen trotz aller Versuche radikaler Innerlichkeit die Menschen prägen. Im beschädigten und verworrenen Verhältnis aller Personen zueinander wird eine heillose Gesellschaft sichtbar. Aus dem hoffnungslosen Zustand provinzieller Enge gibt es keinen Ausweg: Gott ist unerreichbar fern. – Man hat das radikal aufrichtige, sprachlich gerade in seinen Reduktionsformen eindringliche Stück thematisch mit zeitgenössischen Werken von E. Barlach und A. Bronnen verglichen, es aufgrund einzelner Motive und seiner lockeren dramatischen Struktur aber auch in die Nähe von G. Büchners Woyzeck und E. Lasker-Schülers Wupper gerückt.

"Fegefeuer in Ingolstadt" von Marieluise Fleißer in Karlsruhe 1989 Jörg Ratjen und Anne Schmidt-Krayer, Schlußbild